• Stadt, Land, Fluss – „Lautsprecher“ an der U-Bahn

    Oktober 2013 aus: 3E – echt, evangelisch, engagiert

    Lautsprecher

  • Deutsch-israelische Jugendbegegnung –
    Wiedersehen in Dortmund 2013

    September 2013

    wiedersehen

  • Stadt, Land, Fluss – Familien­wap­pen

    Juni 2013 aus: Andacht – Unsere Kirche

    wiedersehen

  • Stadt, Land, Fluss – Sounds of silence

    März 2013 aus: Andacht – Unsere Kirche

    schwarze Schafe

  • Stadt, Land, Fluss – Mama hat jetzt Langeweile

    Dezember 2012 aus: 3E – echt, evangelisch, engagiert

    mir wird nichts mangeln

  • Wiedersehen in Netanya

    Oktober 2012

    Sparfüchse

  • Stadt, Land, Fluss – Jeden Dienstag ein Lieblingsessen

    September 2012 aus: 3E – echt, evangelisch, engagiert

    Beerdigen

  • Beschneidung Interview mit Alexander Sperling


    (Siehe auch Radio-Beitrag unter „Hörbar“, hier)

    Juli 2012

    Zur Person Alexander Sperling:
    Der Diplom-Volks­wirt ist Ge­schäfts­füh­rer der Jü­di­schen Kul­tus­ge­mein­de Dort­mund. Mit 32 Jah­ren ist er ei­ner der jüng­sten Ge­schäfts­füh­rer der 17 jü­di­schen Kul­tus­ge­mein­den in NRW. In der Dort­mun­der Ge­mein­de wer­den pro Jahr et­wa zehn Be­schnei­dun­gen durch­geführt. Die Dort­mun­der Ge­mein­de hat et­wa 3700 Mit­glie­der.


    Das Kölner Land­ge­richt hat die Be­schnei­dung von Jun­gen als rechts­wid­ri­ge Kör­per­ver­let­zung be­ur­teilt, die das Selbst­be­stim­mungs­recht des Kin­des ver­letzt. Was hal­ten Sie da­von?

    Alex­an­der Sper­ling: Die­ses Ur­teil ist skan­da­lös. In Deutsch­land be­deu­tet die­ses Ur­teil, dass das Ju­den­tum und auch der Is­lam, wenn man das Ur­teil ernst nimmt und auch wei­ter­hin so hand­ha­ben würde, nicht ge­wünscht sind. Denn die Be­schnei­dung ist grund­le­gen­der Be­stand­teil des Ju­den­tums und das ist kei­ne rein or­tho­doxe oder al­ter­tüm­li­che Ein­rich­tung. Selbst sehr säku­la­re Ju­den, die sich nicht an die Ge­bo­te des Ju­den­tums hal­ten, las­sen ih­re Kin­der be­schnei­den.

    Welche religiöse Tra­di­tion wird mit der Be­schnei­dung prak­ti­ziert?
    Alexander Sperling: Die re­li­giö­se Grund­la­ge für die Be­schnei­dung ist schon in den fünf Bü­chern Mo­ses in der To­ra ge­ge­ben. Es geht um die Be­schnei­dung Abra­hams, der so den Bund mit Gott schließt. Für je­den Ju­den wird durch die Be­schnei­dung der Bund mit Gott ge­schlos­sen. Jesus, der ja auch Ju­de war, wur­de am achten Tag beschnitten, bis in die 60er Jahre wurde die Beschneidung Jesu auch in den christlichen Kirchen gefeiert.

    Was heißt das Ur­teil für die Jüdi­sche Kul­tus­ge­mein­de Dort­mund? Wie kann die Ge­mein­de mit die­sem Ur­teil um­gehen?
    Alexander Sperling: Mit die­sem Ur­teil kann man in der Ge­mein­de gar nicht um­gehen. Zu­erst muss man schon da­zu sa­gen, das Ur­teil ist natür­lich nicht bin­dend in der Form. Es ist nur das Ur­teil ei­nes Land­ge­richts, das jetzt so steht, al­ler­dings keine Aus­wir­kung auf die ak­tu­el­le Rechts­lage hat. Das heißt ande­re Land­ge­rich­te müs­sen sich nicht an die­ses Ur­teil hal­ten. Al­ler­dings se­hen sich die Per­son, die die Be­schnei­dung durch­füh­ren, im Ju­den­tum sind das Mo­ha­lim, spe­ziel­le da­für aus­ge­bil­de­te Heil­prak­ti­ker, schon einer ge­wis­sen Be­dro­hung ge­gen­über, weil ein Ge­richt ge­ur­teilt hat, dass es sich da­bei um Kör­per­ver­let­zung han­delt. Dass die Be­schnei­dung über­haupt zu ei­ner Ver­ur­tei­lung füh­ren kann, ist an sich schon sehr aus­gren­zend ge­gen­über dem Ju­den­tum und dem Is­lam. Denn die Haupt­be­gründung in die­sem Ge­richts­ur­teil war, dass ge­gen das Kin­des­wohl ge­han­delt wird. Mei­ner Mei­nung nach hat die Be­schnei­dung als Ein­griff - ab­ge­se­hen von ei­nem klei­nen Schmerz - so gut wie kei­ne ne­ga­ti­ven Aus­wir­kun­gen. Ich den­ke, je­des Kind, das sich das Knie auf­schlägt, hat wahr­schein­lich stär­ke­re Schmer­zen, und da fließt auch Blut. Wenn die­ses Ge­richts­ur­teil sagt, dass ei­ne Be­schnei­dung nicht dem Kin­des­wohl ent­spricht, ist dies nichts an­de­res als zu sa­gen, es ent­spricht nicht dem Kin­des­wohl, dem Ju­den­tum oder dem Is­lam an­zu­ge­hö­ren, und das ist schon skan­da­lös.

    Ist mit diesem Ur­teil at­mos­phä­risch ein Punkt er­reicht, an dem Ju­den und Mus­li­me sa­gen, wir sind hier nicht er­wünscht? Kommt das so an?
    Alexander Sperling: Das kommt durch­aus so an. Ich wür­de jetzt we­ni­ger sa­gen, dass Ju­den Mus­li­me das sa­gen wür­den, son­dern, dass Ju­den­tum und Is­lam das sa­gen könn­ten. Es geht hier nicht ge­gen ein­zel­ne Per­so­nen. Ich glau­be auch nicht, dass es ein ras­si­sti­sches Ur­teil oder ein an­ti­se­mi­ti­sches Ur­teil ist, son­dern es geht hier ge­gen das Ju­den­tum als Re­li­gion und ge­gen den Is­lam als Re­li­gion. Es gibt Stim­men, die sa­gen, man soll­te die Be­schnei­dung durch­füh­ren, so­bald die Per­son mit 14 Jah­ren re­li­gions­mün­dig ist oder so­bald sie mit 18 Jah­ren kom­plett straf­mün­dig ist. Mei­ner An­sicht nach wä­re das ei­ne Be­stra­fung, denn mit 14 Jah­ren oder 18 Jah­ren ist man mit­ten in der Pu­ber­tät, oder die Pu­bertät ist schon vor­bei. Die Be­schnei­dung in die­sem Al­ter ist dann auch kein me­di­zi­nisch klei­ner Ein­griff mehr, das wä­re dann ein Akt, der an die Kör­per­ver­let­zung grenzt. In­so­fern ent­spricht es ab­so­lut dem Kin­des­wohl, die Be­schnei­dung wirk­lich in früh­ster Kind­heit durch­zu­füh­ren.

    Wie werden die jüdi­schen Ge­mein­den in NRW rea­gie­ren?
    Alexander Sperling: Wir hof­fen, dass es sich hier­bei nur um ei­ne Ein­zel­mei­nung han­delt, und der Ge­setz­ge­ber ent­spre­chend rea­gie­ren wird bzw., dass man ver­su­chen wird, durch höhe­re In­stan­zen die­ses Ge­richts­ur­teil auf­zu­he­ben. Ju­ri­stisch wird das schwie­rig, denn die­ses Ge­richts­ur­teil ist mo­men­tan nicht an­fecht­bar. Be­züg­lich der Ge­samt-Causa „Be­schnei­dung“, gehen wir da­von aus, dass nicht nur in NRW, son­dern in ganz Deutsch­land, un­se­re Po­si­tion ver­stan­den wird und, dass da­für ge­sorgt wird, dass die Be­schnei­dung im Ju­den­tum und im Is­lam wei­ter­hin wie bis­her prak­ti­ziert wer­den kann.

    Wie nehmen Sie die ak­tu­el­le De­bat­te um das The­ma wahr?
    Alexander Sperling: Besonders er­schreckend ist für uns, dass in In­ter­net­fo­ren sehr aggres­siv auf die­ses The­ma rea­giert wird. Da kommen Ver­glei­che wie bei­spiels­wei­se, ir­gend­wann könne ei­ne Re­li­gion kom­men, die for­de­re, man müs­se sich den klei­nen Fin­ger ab­schnei­den. Sol­che Ar­gu­men­te zei­gen, in wel­cher De­fen­si­ve sich Ju­den­tum und Is­lam hier be­fin­den und sie nicht an­er­kannt wer­den. Die Art und Wei­se, wie Nicht-Ju­den und Nicht-Mus­li­me ger­ne da­rü­ber be­stim­men möch­ten, wie die Re­li­gions­aus­übung von Ju­den oder Mus­li­men durch­ge­führt wird, das ist merk­wür­dig. Nicht ver­ständ­lich ist auch, dass in den In­ter­net­fo­ren ge­sagt wird, die Pra­xis ver­stoße ge­gen die Re­li­gions­frei­heit. Dann dürf­te auch die Kir­che nicht Ba­bys tau­fen. Denn Re­li­gions­frei­heit ist nicht nur die Frei­heit, sei­ne Re­li­gion zu wäh­len, son­dern vor al­lem die Frei­heit, sei­ne Re­li­gion aus­zu­üben.

    Carsten Griese

  • Stadt, Land, Fluss – Gott wird abwischen …

    Juni 2012 aus: 3E – echt, evangelisch, engagiert

    Rabbi

  • Stadt, Land, Fluss – Bist Du die Kirche?

    März 2012 aus: 3E – echt, evangelisch, engagiert

    Halbzeitpause

  • Grüße und Küsse an alle

    Interview mit Mirjam Pressler, Oktober 2011

    Ihr neues Buch über die deutsch-jüdische Familie Frank heißt „Grüße und Küsse an alle“. Warum dieser Titel?
    Mirjam Pressler: Dieses Buch basiert auf Briefen. Es geht um 6000 Brie­fe, Fo­tos und Do­ku­men­te, die ge­fun­den wor­den sind, in dem Haus in Ba­sel, in dem An­ne Franks Groß­mut­ter, ihre Tan­te, ihr On­kel und ihre bei­den Cou­sins ge­lebt ha­ben. Die Fa­mi­lie Frank hat nichts weg­ge­wor­fen. An­nes Groß­mut­ter hat schon aus Frank­furt die Brie­fe mit­ge­bracht, die sie ge­erbt hat von ih­rer Mut­ter, die auch nichts weg­ge­wor­fen hat. Diese Brie­fe zei­gen, wie sehr diese Fa­mi­lie zu­sam­men­hielt. Wenn ei­nem von ih­nen et­was pas­siert ist, wur­de so­fort dem an­de­ren ge­schrie­ben. Und sehr oft war die Un­ter­schrift „Grüße und Küs­se“, al­so die nor­ma­le Un­ter­schrift in­ner­halb ei­ner zärt­li­chen Fa­mi­lie.

    Was zeigen diese Dokumente über das jü­di­sche Le­ben in Deutsch­land vor 1933?
    Mirjam Pressler: Über das jü­di­sche Le­ben herz­lich we­nig, die Franks wa­ren nicht fromm. Sie wa­ren sehr as­si­mi­liert. Aber trotz­dem zeigt es na­türlich et­was über das jü­dische Le­ben, über eine Ge­sell­schafts­schicht, über ei­ne gan­ze Schicht von Bür­gern, die uns ver­lo­ren ge­gan­gen ist. Es wa­ren die wohl­ha­ben­den städti­schen Ju­den, die sehr kul­ti­viert und sehr ge­bil­det wa­ren. Man kann nur be­dau­ern, dass die­se Bür­ger feh­len, dass es das nicht mehr gibt. Da­für sind die Franks ein gu­tes Bei­spiel. Sie wa­ren nicht so reich wie die Roth­schilds, aber sie wa­ren sehr wohl­ha­bend.

    Wie schafft man es, aus 6000 Do­ku­men­ten die Rich­ti­gen aus­zu­wäh­len. Wel­che Kri­te­ri­en ha­ben Sie an­ge­legt?
    Mirjam Pressler: Ich habe nur un­ter Brie­fen ge­wählt, die mit der Fa­mi­lie zu tun ha­ben. Ich hat­te die Idee, von je­der Ge­ne­ra­tion eine Fi­gur zu neh­men, von ihr aus­zu­ge­hen und über sie zu schrei­ben. Ich woll­te nicht die Brie­fe hin­ter­ei­nan­der ver­öf­fent­li­chen und nur mit er­klä­ren­den Tex­ten ver­bin­den. Ich woll­te die Ge­schich­te die­ser deutsch-jü­di­schen Fa­mi­lie er­zäh­len .
    Die erste Figur ist Alice Frank (1865 – 1953), die Groß­mut­ter von An­ne Frank. Sie hat die Fa­mi­lie ge­prägt und war die wich­ti­ge Per­son in der Fa­mi­lie. Alice hat auch die Lie­be zur Li­te­ra­tur, zur Spra­che und zum Schrei­ben ge­för­dert. Sie hat über ih­re Kin­der, drei Söh­ne und ei­ne Toch­ter, die En­kel ge­prägt. An­ne war ein­deu­tig die Toch­ter ih­res Va­ters, und ih­re Schwe­ster Mar­got war die Toch­ter der Mut­ter. An­ne Frank war von ih­rem Va­ter und das heißt auch von ih­rer Groß­mut­ter geprägt.
    Als zwei­te Fi­gur ha­be ich Le­ni Eli­as (1893 – 1986) ge­nom­men, die Schwe­ster von Ot­to Frank. Sie war die Jüng­ste. Sie hat ei­ne er­staun­li­che Ent­wick­lung durch­gemacht. Sie war die verwöhn­te klei­ne Prin­zes­sin ei­ner wohl­ha­ben­den Fa­mi­lie, vier­tes Kind, ein­zi­ges Mäd­chen und noch da­zu sehr hübsch. Sie hat bis zu ih­rem Tod nie ei­ne Tas­se ge­spült, nie ein Es­sen ge­kocht, es gab im­mer die Haus­häl­te­rin. Als ihr Mann von sei­ner deut­schen Fir­ma ent­las­sen wur­de, weil er Ju­de war, hat sie es ge­schafft, die Fa­mi­lie zu ernähren. An­fangs mit Ge­gen­stän­den, die sie in Kom­mis­sion nahm und für Flücht­lin­ge ver­kauft hat. Die Schweiz war ja voll mit Flücht­lin­gen, die wei­ter­zie­hen woll­ten und ih­re Sa­chen ver­kau­fen muss­ten. Sie hat­ten ja kein Bar­geld. Le­ni hat an­ge­fan­gen, ein Ge­schäft auf­zu­bau­en. Sie hat mit ei­ner un­glaub­li­chen Ener­gie und Ar­beits­kraft die­se wirk­lich große Fa­mi­lie durchgebracht.
    Die dritte Figur ist Anne Franks Cousin Bud­dy Elias. Er ist 1925 geboren, lebt in Basel und ist in Deutsch­land ja als Schau­spie­ler durch Se­rien wie „Schwarz­wald­kli­nik“, „Traum­schiff“, und „Tat­ort“ bekannt.

    Gibt es ei­nen Brief, der Sie be­son­ders be­rührt hat?
    Mirjam Pressler: Es haben mich viele Briefe be­rührt, ein Brief be­son­ders, den die zu­künf­tige Schwie­ger­mut­ter von Alice an ih­re zu­künf­tige Schwie­ger­toch­ter ge­schrie­ben hat. Und der ist mit so vie­len Feh­lern und gleich­zei­tig so lie­be­voll und so mensch­lich, der hat mich fast zu Trä­nen ge­rührt. Ich ha­be nie im Le­ben so ei­nen Brief ge­kriegt, ich hät­te ger­ne so ei­nen Brief be­kom­men.
    Und dann natür­lich die Briefe, die Ot­to Frank, An­nes Vater, ge­schrie­ben hat. Es gibt sehr vie­le Kin­der­brie­fe. Ot­to Frank war als Kind nicht der gu­te Schrei­ber. Ot­to hat ei­gent­lich im­mer nur an sei­ne El­tern über sei­ne Schul­no­ten ge­schrie­ben. Aber dann, als er zwan­zig war, ist sein Va­ter ge­stor­ben. Er war in Ame­ri­ka. Er hat von dort ei­nen Brief an sei­ne Mut­ter ge­schrie­ben, den ich un­glaub­lich finde für ei­nen zwanzig­jäh­ri­gen, jun­gen Mann. Da zeigt sich plötz­lich, was er für ein Mensch war.
    Wenn man nur das Ta­ge­buch der An­ne Frank liest, dann lernt man den Va­ter ja nicht ken­nen. Anne liebt ih­ren Va­ter, aber außer, dass er Charles Dickens liest, er­fährt man nicht viel über ihn. Aber, wenn man bei­spiels­weise die Briefe liest, die er an sei­ne jün­ge­re Schwe­ster im 1. Welt­krieg ge­schrie­ben hat, ist das sehr be­rüh­rend.
    Alle beschrei­ben Ot­to Frank als ei­nen sehr kul­ti­vier­ten, sehr zurück­hal­ten­den Menschen. Aber was er an mensch­li­chen Qua­li­tä­ten und an Em­pa­thie hat, die er für an­de­re auf­brin­gen kann, das ent­deckt man in die­sen Brie­fen.

    Carsten Griese

  • Die zehn Gebote

    Interview mit Rabbiner Jonathan Magonet, Oktober 2011

    Rabbiner Jonathan Magonet, an wen sind die zehn Ge­bo­te adres­siert?
    Die zehn Ge­bo­te sind an den is­rae­li­ti­schen Mann adres­siert, der Frau, Fa­mi­lie, Kin­der, Skla­ven, Be­diens­te­te, Tie­re und Land be­sitzt. Er wird als füh­ren­de Per­son an­ge­spro­chen.

    Wie kann eine moderne Frau die zehn Ge­bo­te ver­ste­hen?
    Ich denke mit Schwie­rig­kei­ten! Mitt­ler­wei­le sind die zehn Ge­bo­te Teil der jü­di­schen Ge­samt­kul­tur und Teil der jü­di­schen Ge­set­ze ge­wor­den. Da die­se Ge­set­ze all­ge­mein gel­ten - mit Aus­nah­me der Tei­le, die nach An­sicht der Rab­bi­ner eher auf Män­ner als auf Frau­en zu­tref­fen – ist das Ge­setz und die zehn Ge­bo­te ein Teil des An­ge­bots Got­tes und da­her auch für Frauen an­nehmbar.
    Ein paar As­pek­te der zehn Ge­bo­te sind viel­leicht et­was pro­ble­ma­ti­scher. Ein Bei­spiel: Das Ge­bot „Du sollst nicht Ehe bre­chen“ ist zwar an ein männ­li­ches Du adres­siert, aber es gibt ja im­mer zwei Be­tei­lig­te, und des­halb ist hier auch die Frau be­tei­ligt. Meine Meinung ist: Je all­ge­mei­ner man die Ge­bo­te be­trach­tet, umso mehr schlie­ßen sie so­wohl Män­ner als auch Frau­en ein. In er­ster Li­nie sind die Ge­bo­te an Män­ner adres­siert, aber das da­ma­li­ge is­rae­li­ti­sche Män­ner­bild um­fass­te auch sei­nen ge­sam­ten Be­sitz, und die­ser Be­sitz schloss auch die Ehe­frau mit ein. Ob sich eine heu­ti­ge Frau di­rekt ig­no­riert fühlt, ist ei­ne an­de­re Fra­ge, aber die heu­ti­ge Kul­tur ist eine völ­lig an­dere als die zu bib­li­schen Zei­ten.

    Welche Bedeu­tung ha­ben die zehn Ge­bo­te für Sie per­sön­lich? Was ent­neh­men Sie dem Text?
    Die zehn Gebote neh­me ich als all­ge­mei­ne Prin­zi­pien sehr ernst, und ich hof­fe, sie in mei­nem ei­ge­nen Le­ben ein­ge­hal­ten zu haben, so­weit mir dies bewusst. Die Vor­stel­lung von "Ge­bo­ten, die mich per­sön­lich be­tref­fen" ent­spricht nicht mei­ner Denk­wei­se: viel eher bin ich Teil ei­ner kul­tu­rel­len Um­ge­bung, die ge­wis­se Ver­hal­tens­wei­sen ak­zep­tiert oder miss­bil­ligt. So über­le­ge ich nicht stän­dig: "Ha­be ich ein be­stimm­tes Ge­bot ge­ra­de ein­ge­hal­ten?" Vermutlich kann man da­ran den­ken, wenn das jü­di­sche Neu­jahr naht – ei­ne Zeit zur Über­prü­fung und Re­fle­xion un­se­res Tuns des ver­gan­ge­nen Jah­res. Dann müss­te ich mir die Fra­ge stel­len, die Sie mir ge­ra­de ge­stellt haben.
    Ein für mich schwie­ri­ger Be­reich be­trifft die Schab­bat-Ge­set­ze. Zu be­stimm­ten Zei­ten war ich in­ten­siv da­mit be­schäf­tigt, zu an­de­ren Zei­ten we­ni­ger. Mög­li­cher­wei­se be­schäf­ti­gen sie mich jetzt wie­der in­ten­si­ver, da ich nun doch mehr Frei­zeit ha­be als frü­her. Wegen der Gebote mache ich mir keine täg­li­chen Sor­gen, ob ich dies oder je­nes ge­tan ha­be. So be­trach­te ich mein Le­ben nicht.

    Was den­ken Sie: Wel­che Be­deu­tung ha­ben die zehn Ge­bo­te für den in­ter­re­li­giö­sen Dia­log, für die Be­zie­hung zwi­schen den Re­li­gio­nen? Kann der Text die Re­li­gio­nen ver­bin­den?
    Nun: Juden­tum, Christen­tum und Islam haben so­viel ge­mein­sam, dass die Grund­la­gen der zehn Ge­bo­te au­to­ma­tisch da­zu­ge­hö­ren. Die Rab­bi­ner hat­ten das Kon­zept der sie­ben Ge­set­ze der Söh­ne No­ahs. Das sind sie­ben grund­le­gen­de Ge­set­ze, die al­le gut­ge­sinn­ten Men­schen ein­hal­ten soll­ten und die ih­nen ei­nen Platz in der kom­men­den Welt – also im Him­mel – ver­hei­ßen. Die mei­sten der Sie­ben Ge­set­ze stam­men di­rekt von den zehn Ge­bo­ten ab. Ein­zi­ge Aus­nah­me ist das Ge­setz, das ein Ge­richts­system for­dert - ein sehr star­kes Ge­setz, das da­von aus­geht, dass ein Ju­stiz­sy­stem we­sent­li­cher Be­stand­teil je­der be­deu­ten­den Re­li­gion ist.
    Wie gesagt: Die Sie­ben Ge­set­ze wur­den haupt­säch­lich von der he­brä­ischen Bi­bel und von den zehn Ge­bo­ten ab­ge­lei­tet. Die Schwie­rig­keit liegt da­rin, in­wie­weit und wie buch­sta­ben­ge­treu man die Ge­bo­te in­ter­pre­tiert. Im Ge­gen­satz zur Im­pli­ka­tion des Ge­set­zes, dass Ehe­bruch die To­des­stra­fe ver­dient, ist mir sehr be­wusst, dass in der jü­di­schen Welt seit min­de­stens 2.000 Jahren nie­mand mehr we­gen Ehe­bruchs hin­ge­rich­tet wur­de. Das Ge­setz zum Ehe­bruch wur­de so in­ter­pre­tiert, dass zu­min­dest die To­des­stra­fe kei­ne Op­tion mehr war. Die Sor­ge um Ehe­bruch bleibt, aber die Stra­fe ist nicht gleich­ge­blie­ben.

    Carsten Griese

  • Clowns treffen Clowns – Israelisch-deutsche Begeg­nun­gen in Dort­mund und Ne­tan­ya

    September 2010

    Clowns

  • Leben im Konflikt –
    Begegnungen und Gespräche in Jerusalem und Ne­tanya

    September 2010

    Konflikt

  • Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ)

    Carsten Griese, November 2009

    Ich arbeite mit im Vorstand der Gesellschaft für christ­lich-jü­di­sche Zu­sam­men­ar­beit (GCJZ). Un­sere Ge­sell­schaft kann 2009 auf 55 Ja­hre en­ga­gier­ter Ar­beit zu­rück­blicken. In West­falen war Dortmund am Grün­dungs­tag - 15. Juni 1954 - die zwei­te Ge­sell­schaft. Heute sind wir eine von über 80 Ge­sell­schaf­ten für christ­lich-jü­di­sche Zu­sam­menarbeit in Deutsch­land, die zu den großen Bürger­ini­tiati­ven mit mehr als 20.000 Mit­glie­dern, Freun­den und För­der­ern zählt.

    Was wir tun
    Wir wenden uns entschieden gegen Vorurteile, In­to­le­ranz und al­le For­men der Ju­den­feind­schaft wie religiösen An­ti­ju­dais­mus, ras­si­sti­schen und po­li­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus sowie Anti­zio­nis­mus.
    Wir machen die gemeinsamen Wurzeln des jüdischen und christ­li­chen Glau­bens bewusst.
    Wir sen­si­bi­li­sie­ren für die Be­son­der­hei­ten un­ter­schied­li­cher Kul­tu­ren und Religionen.
    Unser Ziel ist die Ver­wirk­li­chung von So­li­da­ri­tät al­ler Men­schen ohne Un­ter­schied ihres Glau­bens, ihrer Her­kunft oder ihres Ge­schlechts.

    Dazu bieten wir
    Vorträge, Seminare, Lesun­gen, Fil­me und Stu­dien­fahr­ten, Sy­na­go­gen­be­suche und Aus­stel­lun­gen an und füh­ren kul­tu­rel­le Ver­an­stal­tun­gen und pä­da­go­gi­sche Pro­jek­te durch:

    • um Geschichtsbewusstsein zu wecken bei Jung und Alt
    • um demokratisches Handeln zu fördern
    • um der Begegnung mit jüdischer Kultur und Religion Raum zu geben
    • um den Austausch mit Israel anzustoßen

    Wir nehmen Stellung
    zu Äußerungen und Ereignissen, die Intoleranz und Rassismus befördern.

    Wir entwickeln neue Projekte
    im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit vor Ort mit dem Schwerpunkt
    Spuren Suchen – Begegnen – Lernen
    mit altersgemäßen Ausstellungen wie zum Bilderbuch „Papa Weidt- er bot den Nazis die Stirn“, mit Wettbewerben, Spurensuche und Lehrerfortbildungen

    Initiiert u.a. durch unsere Gesellschaft stellen wir seit 1996 immer wieder aktuell eine Broschüre, die „HANDREICHUNG“ zusammen, die Einblicke gibt über die vielfältigen Kinder- und Jugendprojekte der Gesellschaften in der BRD.

    Das Logo
    Logo wurde vom isra­eli­schen Archi­tek­ten Is­ra­el Lanz­man ge­stal­tet, der auch die Sy­na­go­gen-Mahn­ma­le in den Dort­mun­der Vor­or­ten Dorst­feld und Hörde ent­wor­fen hat.

    Die prächtige Synagoge in Dortmunds Innenstadt
    1900 erbaut vom Architekten Eduard Fürstenau.

    Postkarte Vom damaligen Ober­bür­ger­mei­ster Schmie­ding als „Zier­de der Stadt auf ewige Zeiten“ ein­ge­weiht, musste die Sy­na­go­ge 1938 noch vor der ei­gent­li­chen Hetz­jagd auf jü­di­sche Bür­ge­rin­nen und Bü­rger – dem No­vem­ber­po­grom – ei­ner an­ge­blich not­wen­di­gen Straßen­um­ge­hung wei­chen. Mit Zwangs­ver­kauf der da­ma­li­gen Jüdischen Ge­mein­de ab­ge­presst, folg­te der Ab­riss der „größten Sy­na­go­ge in West­fa­len“ und die spä­te­re Spren­gung.

    Postkarte Heute erinnert daran auf dem ‚Platz der Alten Sy­na­go­ge’, am Schau­spiel­haus, nicht nur dies Straßen­schild
    – von unserer Ge­sell­schaft ini­ti­iert - son­dern auch ein Mahn­mal: ein Stein­block mit ei­nem Ge­denk­text und eine Ge­denk­ta­fel.

    In un­se­ren Ver­an­stal­tun­gen in­for­mie­ren wir nicht nur über die Aus­wir­kun­gen der NS-Zeit in Dort­mund/Deutsch­land und Eu­ropa. Die Sy­na­goge steht auch für ein le­ben­di­ges jüdi­sches Le­ben und das kul­tu­rel­le, re­li­giö­se und wirt­schaft­li­che Wir­ken jü­di­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in un­se­rer Stadt frü­her wie heute.

    Zu diesem Schwerpunkt bie­ten wir an­re­gen­de Vorträge und Ver­an­stal­tun­gen an.
    Der Vorstand der GCJZ Dortmund:
    Ida Berman, Pfarrer Norbert Neu und Pfarrer Carsten Griese (Vor­sit­zende), Pfar­rer Ralf Lange-Sonn­tag, Alexan­der Lev, Ger­trud von Lin­tel, Pfar­rer Carl Drep­per, Ul­rich Moes­ke, Ver­tre­ter Stadt Dortmund, Kultur­be­trie­be Ge­schäfts­be­reich Bi­blio­the­ken - Zen­tral­bi­blio­thek.

    Ehrenvorsitzender: Prof.em. Dr. Jo­hann-Fried­rich Kon­rad Geschäftsführe­rin: Sigrid Schäfer
    Dem Vorstand gehören jeweils zwei jüdische, evangelische und katholische Mitglieder an.

    Sie sind herz­lich ein­ge­la­den, un­se­re Ver­an­stal­tun­gen zu besuchen, sich in­for­mie­ren zu las­sen und mit­zu­dis­ku­tie­ren.

    Zur Zeit hat unsere Gesellschaft 400 Mitglieder. Wir hof­fen auf Dau­er, ein Pro­mill der Dort­mun­der Bevöl­ke­rung und Men­schen aus der um­lie­gen­den Re­gion für un­se­re Ar­beit und un­se­re ge­mein­same ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung zu in­te­res­sie­ren und sie als Mit­glie­der zu ge­win­nen.

    Alle Mitglieder werden regel­mäßig durch Rund­brie­fe in­for­miert und zu Ver­an­stal­tun­gen ein­ge­la­den. Der Jah­res­bei­trag be­trägt zur Zeit 25 €. Er­mäßigt für Ehe­paare 35 €; für Schü­ler, Stu­den­ten etc. 5 €.

  • Auf die Gastfreundschaft

    Carsten Griese, Andacht für den 21. Juni 2009

    Lukas 14,16-24 (in Aus­wahl): Er aber sprach zu ihm: Es war ein Mensch, der mach­te ein großes Abend­mahl und lud viele dazu. Und sandte sei­nen Knecht aus (...), zu sa­gen den Ge­la­de­nen: Kommt, denn es ist alles be­reit! (...).

    Postkarte Der erste sprach zu ihm: Ich habe ei­nen Acker ge­kauft und muss hi­naus­ge­hen und ihn be­se­hen; ich bit­te dich, ent­schul­dige mich. Und der an­de­re sprach: Ich habe fünf Joch Och­sen gekauft, und ich gehe jetzt hin, sie zu be­se­hen; ich bit­te dich, ent­schul­dige mich. Und der drit­te sprach: Ich habe ein Weib ge­nom­men, da­rum kann ich nicht kommen.

    Und der Knecht kam und sagte das sei­nem Herrn wieder. Da ward der Haus­herr zor­nig und sprach zu sei­nem Knech­te: Gehe aus schnell auf die Straßen und Gas­sen der Stadt und führe die Ar­men und Krüp­pel und Lah­men und Blin­den herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist ge­sche­hen, was du be­foh­len hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf dass mein Haus voll werde. Ich sage euch aber, dass der Männer keiner, die ge­la­den wa­ren, mein Abend­mahl schmecken wird.

    "Wie war denn die Feier?“, wurde meine Großmutter gefragt. „Dat Neidigen hät feilt“, antwortete sie auf platt. „Neidigen“ bedeutet in Ostwestfalen, dass man als guter Gastgeber seinen Gästen immer wieder etwas anbietet. Dabei spielt es absolut keine Rolle, ob der Gast signalisiert: Danke, ich habe eigentlich genug. Zu einer ostwestfälischen Feier gehört – jedenfalls für meine Großmutter – „dat Neidigen“.

    Auch das Gleichnis vom großen Abendmahl handelt von einer Feier. Jesus erzählt sie am Sabbat als Gast eines Pharisäers. Im Gleichnis spielt Gott die Rolle des Gastgebers. Doch die vorbereitete Feier droht zu platzen. Die Gäste sagen alle ab. Die Entschuldigungen sind fadenscheinig. Keiner sagt offen: „Ich habe keine Lust“. Den Gästen ist das Geschäftliche und Private wichtiger als das Miteinander.

    Die Absagen der Gäste liegen im Trend und würden in unserer Gesellschaft akzeptiert: Denn der persönliche Vorteil und Besitz stehen auch heute hoch im Kurs, sind wichtiger als Geschenke, die das Leben bereit hält. Der Theologe Gerd Theißen schreibt: „Eine Gesellschaft, die individuelle, selbst erworbene und selbst verursachte Freude für den höchsten Wert hält, wird blind für gemeinsame und geschenkte Freude. Die größte Freude, die Menschen verbinden kann, ist die Freude in Gott. Sie wird grundsätzlich nur geschenkt. Sie wird grundsätzlich nur mit anderen geteilt“. Jeder gewinnt durch sie.

    Die Eingeladenen verstehen das nicht und sagen ab. Der Gastgeber ist wütend, aber überlegt sich eine Alternative. Seine Einladung gilt jetzt neuen Gästen, die anderen haben ihre Chance verspielt. Gottes Gastfreundschaft kennt Grenzen. Jetzt sind nicht mehr die Wohlhabenden eingeladen, sondern Menschen, die beeinträchtigt und arm sind.

    Die Leiterin einer evangelischen Kindertageseinrichtung in Dortmund berichtete mir, dass manche Kinder jeden Tag hungrig in die Einrichtung kämen. Deshalb würde morgens zuerst gemeinsam gefrühstückt. In diesen Erfahrungen zeigt sich ein Trend, der sich auch statistisch belegen lässt: In Dortmund und Umgebung leben 18 Prozent der Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Ein Spitzenwert in NRW. Besonders Kinder trifft Armut hart. Sie haben schlechtere Chancen. Der Zugang zum Gymnasium oder Studium bleibt ihnen oft verwehrt, weil sie zuhause weniger Förderung erhalten. „Armut ist dabei, zur Normalität in Deutschland zu werden“ sagt der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge.

    Jesus ist beim Thema Armut parteiisch. Jedenfalls verstehe ich so die Geschichte vom großen Abendmahl. Das Reich Gottes steht den Armen offen. „Kommt, denn ist alles bereit“. Die Feier des Abendmahls ist schon jetzt ein Vorgeschmack auf Gottes Reich: Jesus Christus ist bei uns, ist in Brot und Wein gegenwärtig. Für Kleine und Große, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde. Die Einladung zur Feier wirft Fragen auf: Wie wird Gottes Gastfreundschaft für Menschen, die arm sind, in unseren Gemeinden erfahrbar? Gehören das Abendmahl und eine Mahlzeit, die satt macht, nicht eigentlich zusammen? Wie kann sich die evangelische Kirche für Chancengleichheit stark machen? Unsere Gemeindehäuser werden sich füllen, wenn wir mit Ideen und Tatkraft Antworten auf diese Fragen suchen. Den Platz in unseren Häusern haben wir. Als der Gastgeber merkt, dass noch Raum im Haus ist, sagt er seinem Knecht: „Geh auf die Landstraßen vor der Stadt und nötige sie zu kommen, damit mein Haus voll wird.“ Im Gleichnis vom großen Abendmahl fehlt „dat Neidigen“ nicht. Meine Großmutter hätte sich bei dem Gastgeber wohl gefühlt: „Dat Neidigen was chaut“.

    Dieser Beitrag wurde am 20.06.2009 um 00:00 Uhr veröffentlicht.

  • Den Trecker nachahmen –
    Kirsten Boie über Lese­för­de­rung von Kindern

    Juni 2009

    Frage: Macht Lesen schlau?
    Kirsten Boie: Es ist zumindest immer noch die Grundfertigkeit, die wir brauchen, sonst kommen wir in dieser Gesellschaft nicht klar. Und es gibt ja viele Untersuchungen, die sagen: Messen Sie mit dem Zentimetermaß, wie viele Bücher in einem Haushalt stehen und Sie können in etwa den Schulabschluss des Kindes bestimmen. Das ist aussagekräftiger als viele andere Tests in den frühen Jahren und ich vermute, da ist was dran. Es gibt auch Untersuchungen, die man in den USA mit Neunjährigen durchgeführt hat. Man hat den Intelligenzquotienten betrachtet, die Schulnoten und die Lesebegeisterung, also wie viele Bücher Kinder freiwillig in der Woche lesen. Man stellte fest, dass die Lesebegeisterung der beste Indikator für den späteren Schulabschluss ist. Also insofern ist es jedem Kind zu wünschen, dass es gerne liest.

    Frage: Was würden Sie sich von den Eltern wünschen?
    Kirsten Boie: Ich würde mir von allen Eltern wünschen, dass sie ganz früh anfangen mit ihren Kindern Bücher anzugucken. Es geht darum, gemeinsam mit ihnen zu blättern, angucken, was auf den Bildern ist und mit ihnen darüber zu reden. Es geht darum, die Geräusche nachzuahmen, die die Tiere und der Trecker machen, um Kindern schon ganz früh Freude an der Beschäftigung mit Büchern nahezubringen.

    Frage: Ab welchem Alter können Eltern anfangen, Kinder an Bücher heranzuführen?
    Kirsten Boie: Vielleicht noch nicht direkt nach der Geburt, aber ganz früh, sicherlich ungefähr mit 10 Monaten kann man mit Kindern gemeinsam erste Bilderbücher angucken. Die Kinder erleben diese Situation bei den Eltern auf dem Schoß und gemeinsam über einen Gegenstand gebeugt als sehr positiv. Insofern schafft man von Anfang an ein sehr wichtiges positives Klima dem Gegenstand Buch gegenüber. Wir haben ja heute viele Kinder, die in die Schule kommen und noch nie ein Buch in der Hand gehabt haben. Deren Chancen sind natürlich ganz schlecht im Vergleich zu den Chancen solcher Kinder.

    Frage: Was motiviert Kinder zum Lesen?
    Kirsten Boie: Also wenn man Kinder fragt, was sie selbst gerne lesen, dann sagen sie, es soll lustig oder es soll spannend sein. Und am besten soll es lustig und spannend sein. Wobei der Humor von Kindern natürlich ein ganz anderer ist als der Humor Erwachsener. Auch was Kinder als spannend empfinden, finden Erwachsene überhaupt nicht spannend. Das können durchaus ganz alltägliche Begebenheiten sein, die Kinder emotional ganz betroffen machen, weil sie ähnliche Geschichten in ihrem Alltag erleben. Ich glaube, wichtig ist, dass das Buch dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes entspricht. Vielleicht sollte es den Erfahrungshorizont des Kindes etwas überschreiten, so dass für das Kind auch ein gewisser Reiz darin liegt. Aber nicht zu weit, dass es nicht zu beängstigend oder zu kompliziert ist. Es sollte auch seiner Lese-Erfahrung in etwa entsprechen. Also können sie einem Kind, das bis dahin ganz, kurze, ganz einfache Texte gelesen hat, keinen ganzen Harry Potter geben. Das heißt, das Buch muss dem Entwicklungsstand und dem Leseentwicklungsstand des Kindes entsprechen.

    Frage: Wie kann man darauf reagieren, dass Kinder unterschiedlich gefördert werden und die Schere zwischen armen und reichen Familien weiter auseinandergeht?
    Kirsten Boie: Wir wissen, dass wenn die Kinder in die Schule kommen, in ihrer Entwicklung schon ganz viel feststeht. Also, dass die Schule längst nicht mehr alles korrigieren kann. Selbst wenn sie viel mehr tun könnte, als sie heute tut und wenn die Bedingungen für Lehrer auch besser wären als sie sind. Aber vieles ist bei der Einschulung schon entschieden.

    Das heißt, spätestens im Kindergarten müsste eine intensive Auseinandersetzung mit Bilderbüchern stattfinden. Dafür müssten die Erzieherinnen und Erzieher auch qualifiziert werden in ihrer Ausbildung. Ihnen müssteberufsbegleitend nahe gebracht werden, welche Bilderbücher sich zu welchen Themen eignen und was man alles mit ihnen machen kann. Man kann sie ja nachspielen, mit Salzteig dazu basteln, es gibt ja diverse Möglichkeiten. Da müsste sehr viel mehr passieren.

    Mein größter Wunsch wäre eigentlich, dass wir tatsächlich bundesweit das bekämen, was in Großbritannien, Japan und in Kanada seit Jahren Standard ist: Lesefrühförderprojekte, die in der Familie ansetzen und die versuchen, auch solche Eltern einzubeziehen, die von sich aus niemals auf den Gedanken kämen mit ihren Kinder zu lesen.

    Worin besteht die gesellschaftliche Verantwortung?
    Kirsten Boie: Die Neurobiologie hat uns da ja ganz viel klar gemacht. Wir wissen heute, dass bestimmte Entwicklungsfenster zum Zeitpunkt der Einschulung geschlossen sind. Wir müssen sie also nutzen, solange sie geöffnet sind. Dies ist in der frühen Phase, in der viele Kinder noch ausschließlich in der Familie sind. Gerade für die Eltern, die von sich aus nicht auf den Gedanken kämen, mit Kindern zu lesen oder Bücher anzugucken, müssen erstens Bücher zur Verfügung gestellt werden und zweitens Hilfestellungen, die es ihnen ermöglichen, auch ihre Scheu zu überwinden. Ich nehme immer gerne das Beispiel von Familien mit Migrationshintergrund. Stellen Sie sich Mütter vor, die selbst nicht sehr gut lesen können und denen ihr Lebtag niemals jemand vorgelesen hat. Wie sollten die auf den Gedanken kommen, ihrem Kind vorzulesen? Selbst wenn wir ihnen, wie das in Deutschland in verschiedenen Förderprojekten passiert, Bücher an die Hand geben, fühlen sie sich sehr unsicher und sehr hilflos und wissen nicht wirklich, was sie damit machen sollen.

    Kirsten Boie unterstützt das Hamburger Frühförderprojekt „Buchstart“
    (nähere Infos unter: www.buchstart-hamburg.de).

    Das Interview führte Carsten Griese.

  • Nach dem Rechten sehen

    Katalog, Dezember 2007

    Nach dem Rechten sehen

  • „… die Liebe hört niemals auf“

    Katalog, Ev. Studierendengemeinde Dortmund, Januar 2006

    Liebe hört niemals auf


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